Architektur und Gesellschaft 2016

European Communities: Dorfkommunen im Spiegel Europas

(Lotte Schreiber, Kuratorin)

Die dem Vertragsentwurf über eine europäische Verfassung vorausgehende Präambel, die unter anderem an den Willen der Völker appelliert, die alten Gegensätze zu überwinden und ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten, wirkt in Anbetracht der unsolidarischen Haltung einiger europäischer Länder in aktuellen Fragen der Asylpolitik wie ein utopischer Wunschzettel. Umso weniger verwunderlich erscheint in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass jener 2004 von allen EU-Mitgliedsstaaten unterzeichnete Vertrag über eine Verfassung für Europa bis heute nicht in Kraft getreten ist.

Indem sie sich mit den grundsätzlichen Fragen des Zusammenlebens auseinandersetzt und dabei den Blick auf das Detail richtet, wagt die Programmsektion Architektur und Gesellschaft in diesem Jahr, ein Bild Europas zu zeichnen: Im Spiegel aktueller gesellschaftspolitischer Realitäten gewähren drei bemerkenswerte dokumentarische Arbeiten sowie ein außergewöhnlicher Spielfilm Einblick in unterschiedliche europäische Kleinkommunen. Vorwiegend im ländlichen Kontext verortet, erzählen die versammelten Filme facettenreich von einem Europa der Provinz – von den dort vorgefundenen Gegensätzen und Vorurteilen ebenso wie von den zaghaften Versuchen des aufeinander Zugehens – von Repression, Intoleranz und Engstirnigkeit ebenso wie vom Versuch Einzelner, sich dagegen zu wehren.

Der Dokumentarfilm The Érpatak Model des israelisch-niederländischen Filmemachers Benny Brunner führt uns in ein Dorf im äußersten Nordosten Ungarns, dessen Bürgermeister sich als bekennender Rechtsextremist ein autoritäres Regelwerk zur Disziplinierung der Bevölkerung zurechtgelegt hat. Die kleine finnische Gemeinde Erajöki hat sich für den Bau des ersten Atomkraftwerks im Westen Europas nach dem Super-GAU von Tschernobyl (1986) ausgesprochen. Der Filmemacher und bildende Künstler Mika Taanila und der Kameramann Jussi Eerola beobachten in ihrer dokumentarischen Langzeitstudie Atomin paluu das Leben der Dorfgemeinde im Angesicht des stetig wachsenden Kraftwerkbaus. Die junge deutsche Regisseurin Bettina Büttner zeichnet in ihrem Dokumentarfilm Die fremde Frau – Winterreise nach Flossenbürg anhand des Porträts einer Dorfbewohnerin das Leben einer kleinen bayrischen Gemeinde nach. Ein ausschließlich von Asylwerbern bewohntes Hochhaus am Rande einer italienischen Kleinstadt ist indes Schauplatz von Homeward Bound – Sull a strada di casa. Gemeinsam mit seinen Protagonistinnen und Protagonisten, einer Gruppe von dort lebenden Jugendlichen, entwickelte der italienische Kulturanthropologe und Dokumentarfilmer Giorgio Cingolani das Drehbuch zu einem Film, der vom Alltag der Teenager zwischen Ausgrenzung, Langeweile und Hoffnung erzählt.

 

Filme der Sektion: